B. Henningsen u.a. (Hrsg.): Transnationale Erinnerungsorte

Title
Transnationale Erinnerungsorte. Nord- und südeuropäische Perspektiven


Editor(s)
Henningsen, Bern; Kliemann-Geisinger, Hendriette; Troebst, Stefan
Series
The Baltic Sea Region: Northern Dimensions - European Perspectives 10
Extent
196 S.
Price
€ 29,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jörg Hackmann, Universität Stettin

Der Tagungsband versammelt ausgewählte Beiträge einer Konferenz an der Humboldt-Universität Berlin im Herbst 2006, über die bereits an dieser Stelle berichtet wurde.1 Absicht der Tagung war es, die Bindung des Konzepts der Erinnerungsorte an jeweils nationale Kontexte durch die Diskussion transnationaler Erinnerungsorte von Sibirien bis zur Levante infrage zu stellen. Dabei sollte es nicht um „hier auch“-Beobachtungen gehen, sondern um einen räumlich, zeitlich und thematisch multiperspektivischen Zugriff, um dann zu prüfen, in welcher Richtung zukünftige Forschungsansätze vertieft werden können. Angesichts der gegenüber der Konferenz deutlich reduzierten Zahl von Fällen, die in der vorliegenden Publikation präsentiert werden, handelt sich bei ihnen gewissermaßen um Probebohrungen, um die Tragfähigkeit des Konzepts transnationaler Erinnerungsorte zu erproben.

In seinem einleitenden Beitrag, der - wie die letzte Fußnote des Textes andeutet - auf einem 2005 veröffentlichten Aufsatz beruht, fragt Etienne François, ob eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar sei, und antwortet zunächst mit der Feststellung, dass die Konjunktur von Gedächtniskulturen ein gesamteuropäisches Phänomen sei, das jedoch auch dort, wo es transnationale Themen berühre, national gerahmt bleibe. Vor diesem Hintergrund geht François auf die bereits in den „Deutschen Erinnerungsorten“ eingeführte Kategorie der „geteilten Erinnerungsorte“ ein, deren doppelten Wortsinn er hier ausführlich erörtert. Zugleich differenziert er sie in explizite und implizite Erinnerungsorte. Diese impliziten oder indirekten Erinnerungsorte seien dadurch gekennzeichnet, dass sie neben ihrer vordergründig nationalen Spezifik bei näherer Betrachtung auch europäische Bezüge aufwiesen. Im Anschluss an das Renansche Diktum von der Nation als Erinnerungsgemeinschaft fragt François dann, ob Europa sich ebenso konstruieren lasse. Dafür gebe es zahlreiche Indizien, allerdings weist er zugleich mit Recht darauf hin, dass die Historiker, die sich mit diesen Fragen befassen, keineswegs nur Beobachter, sondern zugleich auch Akteure in diesen Prozessen seien.

Von den folgenden acht Beiträgen befasst sich die Mehrheit mit dem Norden Europas (und zwar – im Sinne Schlözers – unter Einbeziehung Russlands). Steen Bo Frandsen arbeitet zu Schleswig überzeugend heraus, dass dieser Erinnerungsort durch zwei deutlich voneinander getrennte nationale Perspektiven gekennzeichnet sei. Für die Dänen sei die Erinnerung an die Region eindeutig national und keineswegs transnational geprägt, was sich auch darin zeige, dass ihre Bezeichnung als Sønderjylland (Südjütland) auf der Negation einer eigenen regionalen Identität beruhe. Dagegen gelte Schleswig in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie als regionaler und transnationaler Erinnerungsort. Die deutsch-dänische Grenze sei in Dänemark jedoch positiv konnotiert, und so seien dort auch keine Ansätze erkennbar, im Kontext von Schleswig über einen gemeinsamen transnationalen Erinnerungsort nachzudenken. Wenn es doch Ansätze zu transnationalen Neuinterpretationen gebe, dann könne es sich dabei nicht um Umdeutungen älterer, kontroverser nationaler Perspektiven handeln, sondern nur um neue Konstruktionen mit gänzlich anderem Inhalt. Die jüngsten Debatten über den Idstedtlöwen, der als dänisches Siegesdenkmal für die Schlacht im Jahr 1850 geschaffen wurde, zeigen nach wie vor die unterschiedlichen Erinnerungsmuster: Während seine geplante Rückkehr nach Flensburg in Deutschland als transnationales pazifistisches Symbol gedeutet werde, sei eine solche Argumentation auf dänischer Seite nicht anzutreffen. Der Fall sei aber zugleich auch ein Indikator für die Macht der historischen Konstruktion.

Dass die Überlagerung von kollektiven Erinnerungen noch deutlich vielschichtiger sein kann, demonstriert Max Engman in seinem Beitrag zu Finnland, das er als einen einzigen schwedischen Erinnerungsort bezeichnet. Es geht Engman dabei weniger um die Erinnerung an Finnland in Schweden, sondern umgekehrt darum, wie die schwedische Zeit in Finnland erinnert wird. Diese Erinnerung manifestiere sich aber unter Schweden wie Finnen darin, dass es gerade keine konkreten Orte einer kolonialen schwedischen Herrschaft in Finnland gebe. Das liege zum einen daran, dass die finnische und schwedische Geschichte vor 1809 nicht zu trennen sei. Zum anderen habe nach der Inkorporation Finnlands in das Russländische Reich das weiter geltende schwedische Recht kein transnationales Gedächtnis konstituiert, sondern sei unmittelbar zur historisch-politischen Zementierung des Zustands von 1809 herangezogen worden. Dieser Sachverhalt habe sich dann in Yrjö Koskinens sehr erfolgreicher Konzeption einer finnischen Nostrifizierung schwedischer Geschichte niedergeschlagen, wie sie etwa an der Restaurierung und Musealisierung der Festung Sveaborg (heute Suomenlinna) zu erkennen sei. Als transnationaler Erinnerungsort sei dagegen das heute in Russland gelegene Wiborg / Viipuri / Vyborg zu betrachten, wo es jedoch gerade die russische Bevölkerung sei, die sich der schwedischen Zeit annehme.

Wenn das Konzept von transnationalen Erinnerungsorten bzw. -landschaften im deutsch-dänischen und finnisch-schwedischen Fall nur eingeschränkt anzuwenden ist, so stellt Peter Aronsson in seinem Beitrag zu „National cultural heritage – Nordic cultural heritage“ die Situation für den „Norden“ anders dar. Er versucht zu zeigen, dass sich die Diskussion über das kulturelle Erbe von zunächst national kodierten Wahrnehmungen zu einem transnationalen Bild des Nordens gewandelt habe. Bezüge auf die naturgeographische Entwicklung seit der letzten Eiszeit wie auf die lange historische Dauer von der Vorgeschichte bis in die Gegenwart hätten dieses Bild des Nordens verfestigt und auch für die Integration von historischen Spannungen und Traumata anschlussfähig gemacht. Insgesamt sieht Aronsson ein großes Potential, die Vorstellung eines gemeinsamen nordischen Kulturerbes auch jenseits staatlicher Manifestationen in zukünftigen Identitätskonzepten zu nutzen.

Mit nordischen Themen befassen sich auch zwei weitere Beiträge. Peter Stadius betrachtet den Norden als Erinnerungsraum aus der Perspektive Südeuropas. Sein Überblick spannt sich von gotischem Erbe über Vorstellungen einer kulturellen Inferiorität des Nordens bis in Gegenwart, in der der Autor auch eine neue kulturelle Attraktivität des Nordens ausmacht. Enger fokussiert und damit auch klarer konturiert ist Norbert Götz’ Beschäftigung mit Genf als nordeuropäischem Erinnerungsort bzw. als Erinnerungsort an den Norden. Götz analysiert zunächst die verschiedenen Erinnerungen, die sich mit Genf verbinden, und sieht den Ausgangspunkt für die doppelte nordeuropäische Bedeutung Genfs in dem Schiedsspruch des Völkerbunds zu den Ålandinseln von 1921 sowie in den Kontakten unter den nordeuropäischen Diplomaten. Auf der einen Seite habe die Lösung des schwedisch-finnischen Konflikts die positive Erinnerung an den Völkerbund geprägt, und auf der anderen Seite hätten die skandinavischen Staaten Genf als Bauplatz ihrer nordischen Zusammenarbeit gesehen. Das habe sich jenseits der Diplomatie auch etwa in der Gründung einer schwedischen Heimvolkshochschule für „internationale Gemeinschaftskunde“ manifestiert.

Karsten Brüggemann versucht in seiner Verortung Sibiriens im estnischen Gedächtnis, die vorherrschende Perspektive eines nationalen estnischen (ebenso wie lettischen und litauischen) Erinnerungsortes aufzubrechen, der den Terror des sowjetischen Systems kodiert. Der Interpretation in Estland seit den 1980er Jahren, die vom Überleben in der fremden Welt Sibiriens und von einem Narrativ des nationalen Martyriums geprägt sei, stellt er zum einen die positive Konnotation Sibiriens für estnische Auswanderer im 19. Jahrhundert gegenüber. Zum anderen verweist er auf abweichende individuelle Erfahrungen in Sibirien und schließlich auch auf transnationale Ansätze in der gemeinsamen Erinnerung an Sibirien als Ort der Deportation.

Die beiden letzten Beiträge wenden sich dem Südosten Europas zu. Ulrike Tischler beschreibt die transnationalen Bezugsrahmen in Byzanz / Konstantinopel / Istanbul, innerhalb derer sich dann unterschiedliche Erinnerungen formierten. Sie nennt hier erstens die Welthauptstadt, für die zahlreiche Rombezüge, aber auch die Bewahrung des Kulturerbes (Hagia Sophia) in osmanischer Zeit sprechen. Den zweiten Bezugsrahmen bilde das ökumenische Patriarchat, das als regionsbildender Erinnerungsort betrachtet werden könne; dieser habe als helleno-osmanisches Konstrukt bis zum Ende des osmanischen Reiches bestanden. Mit dem Balkankrieg 1912 sei schließlich eine Wende zu geteilten, nationalisierten Erinnerungen als drittem Bezugsrahmen eingetreten, in dem Istanbul provinzialisiert und türkisiert worden sei. Letztlich habe sich aber auch eine nostalgische Betrachtung der Stadtgeschichte entwickelt, in der auch Indizien für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe und für eine Wiederbelebung der transnationalen Beziehungen zu erkennen seien.

Stefan Troebst arbeitet in seinen Beobachtungen zu Solun / Selânik / Salonika / Thessaloniki am Weißen Turm am Hafen exemplarisch die divergierenden Erinnerungsstränge heraus. So werde der Turm als Symbol sowohl für das griechische Streben nach einem Nationalstaat wie für das türkische Tor nach Europa gesehen. Außerdem stehe er für die Erinnerung an das jüdische Stadtviertel und schließlich für die Südslaven als Gefängnisturm für nationale Unterdrückung. Zusätzliche geschichtspolitische Aufladung habe die Stadt als Geburtsort von Kemal Atatürk und als Ausgangspunkt der jungtürkischen Revolution erhalten. Die Tatsache, dass die Stadt ein bedeutender südslavisch-mazedonischer Erinnerungsort sei, sei durch die Gräzisierung der Stadt erfolgreich verdrängt worden, allerdings deuteten sich in der Folge der Ausdehnung der Europäischen Union auf den Balkan in jüngster Zeit Änderungen an.

Abgesehen von der geographischen Breite und der unterschiedlichen historischen Tiefendimension der behandelten Erinnerungsorte, geben die vorgelegten Beiträge auch in ihren methodologischen Zugängen ein recht heterogenes Bild ab. Das heißt freilich nicht, dass sich die Fragestellung des Projekts damit erübrigt hat. Allerdings wäre es vielleicht hilfreich gewesen, wenn die Herausgeber etwas mehr Mühe darauf verwandt hätten, die Befunde der einzelnen Beiträge zu systematisieren oder zumindest deren Stellenwert zu erörtern. Ihr Vorwort, das eine Kreuzung aus einem klassischen Vorwort und den Präliminarien der Konferenz darstellt, kann das nicht leisten. Namentlich die Beiträge zu Schleswig, Finnland und Sibirien zeigen, dass es ertragreich und möglich ist, transnationale Erinnerungsorte nicht nur als Addition oder Konfrontation nationaler Erinnerungen darzustellen, sondern als spezifische Formen kollektiver Erinnerung zu analysieren beziehungsweise als Forschungsstrategien zu formulieren. In den südeuropäischen Fällen steht dagegen zunächst das Freilegen der unterschiedlichen Erinnerungsschichten unter einer nationalistischen Überlagerung im Vordergrund. Ein ähnliches Vorgehen ließe sich auf zahlreiche osteuropäische Städte anwenden. Hier ist das politische wie wissenschaftliche Ziel recht eindeutig: es geht um die Dekonstruktion nationalistischer Erinnerungskulturen und den Hinweis auf die Multiperspektivität von kollektiver Erinnerung. Diese lässt sich freilich kaum ohne die Hilfe der Historiker und Historikerinnen aufzeigen, so dass sich hier das bereits von François benannte Dilemma stellt, dass sie nicht nur wissenschaftliche Beobachter, sondern zugleich auch Produzenten von Erinnerungskulturen sind. Das ist freilich ein Sachverhalt, der auch aus anderen Zusammenhängen wie der Produktion von Nationalismen oder Regionalismen bekannt ist. Man wird den Historikern hier wohl kaum die Zuständigkeit entziehen können, umso mehr müssen sie aber zu einer Reflektion des Sachverhalts aufgefordert werden.

Eine erschöpfende Erörterung des Problemfeldes kann der Tagungsband nicht bieten, das war auch nicht seine Intention. Er enthält aber doch anregende Beiträge für eine intensivere Beschäftigung mit den transnationalen Aspekten in Erinnerungskulturen.

Anmerkungen:
1http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1372.

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13.05.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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